Zoff mit Karl May & Co.

DDR-Sommerfilmtage, Karl May und Hans Dominik

                    Pioniere, wichst fleißig, denn Wichsen bringt uns Geld,
                    denn für Wichse, da kriegt der Staat viel hartes Geld.
                    Im Export sind wir Meister, da sind wir riesengroß,
                    neben Wichse auch Hemd und Jacke, Rock' und Hos'.

Im Laufe der ersten Schuljahre hatte Ronald zuweilen seine liebe Not.
Alles in allem bewältigte er die Schule problemlos und seine Noten und Zeugnisse konnten sich durchaus sehen lassen. In seiner Klasse war er regelmäßig unter den besten drei Schülern und unter den Jungen hatte er mit Abstand den besten Leitungsdurchschnitt. Allerdings reichte es in den ersten Jahren nicht ganz zur Teilnahme an der öffentlichen Auszeichnung der jeweils Klassenbesten, die regelmäßig zum Ende eines jeden Schuljahres vorgenommen wurden.
    Dies verdroß seine Eltern und Großeltern mächtig und sie wirkten kräftig auf ihn ein, dass er seine Leistungen weiter steigern sollte. Speziell sein Vater war in dieser Beziehung mehr als hartnäckig und brachte in schöner Regelmäßigkeit seine bewährten Lehrmethoden an seinem Sohn zur Anwendung.
    Nur half es nicht viel. Den Rang des Klassenprimus, wie der Großvater es zuweilen nannte, errichte er nie, legte aber auch keinen großen Wert darauf, als Streber verrufen zu sein.
    Der Vater konnte aber auch ganz anders sein. In ideologischen Dingen hielt er es mit dem Sozialismus nicht so streng und war im Inneren, wie der Großvater, ein durchaus überzeugter Antikommunist. Nach außen hin zeigte man sich natürlich weitestgehend systemkonform, aber innerhalb der Familie hatte sich der imperialistische Klassenfeind ein behagliches Plätzchen eingerichtet.
    Im August 1967 sah Ronald den zweiten Film der 'DDR-Sommerfilmtage', die Verfilmung von Coopers "Wildtöter": "Chingachgook, die große Schlange".
    Der Film gefiel ihm sehr und als er nach Hause kam, erzählte er den Eltern begeistert davon.
    "Nun ja, dieser Film ist sicherlich nicht schlecht!" sagte der Vater. "Du weißt, dass es die Verfilmung eines bekannten Romans ist?"
    Ronald nickte. "Ja, von James Fenimore Cooper. Der hat fünf Indianerbücher geschrieben!"
    "Hast du sie schon mal gelesen?"
    Ronald nickte stolz.
    "Ja, hab' ich! Schon vor ein paar Wochen."
    Der Vater lächelte.
    "Gut, aber weißt du, es gibt auch einen sehr berühmten deutschen Schriftsteller, der weit über siebzig spannende Bücher geschrieben hat. Viele dieser Bücher handeln auch von Indianern. Sein Name ist Karl May."
    "Nein, von dem habe ich noch nichts gehört." sagte Ronald nachdenklich. "Haben wir diese Bücher? Ich glaube nicht."
    "Das stimmt." sagte der Vater. "Ich hatte mal einige Bücher von ihm, ich weiß aber gar nicht mehr, wo sie hingekommen sind. Wahrscheinlich haben die Russen sie damals mit ihrem Machorka zu Zigaretten verarbeitet. Weißt du, dieser Schriftsteller ist bei uns in der DDR zwar nicht verboten, aber auch nicht gerade erwünscht. Er wird hier auch nicht mehr verlegt. Deine Klassenlehrerin zum Beispiel, mag ihn überhaupt nicht. Gut, das hat bei ihr gewisse Gründe, über die ich jetzt nicht sprechen möchte!"
    Die Klassenlehrerin war das, was man gemeinhin unter einer hundertfünfzigprozentigen Genossin verstand.
    "Aber wenn du ihn gelesen hast, wirst du es sicherlich verstehen. Ja und wenn deine Oma in den nächsten Tagen nach Frankfurt2 fährt, wird sie vielleicht versuchen, dir ein oder zwei Bücher mitzubringen. Hoffentlich bekommt sie sie an der Grenze nicht abgenommen!"
    Herrlich! Das war etwas für Ronald! Etwas Neues, Unbekanntes und fast Verbotenes! Ein  Schriftsteller, der von Indianern schrieb und den die Klassenlehrerin nicht mochte? Toll!! Das konnte ja nur etwas sein, was mit den bösen Kapitalisten zu tun hatte.
    Drei Wochen später.
Die Oma hielt Wort. Aus zwei großen Koffern, gefüllt mit allen möglichen kulinarischen Herrlichkeiten und knallbunten Spielsachen aus dem Lande des Klassenfeindes, holte sie auch drei dicke Bücher heraus:
    'Winnetou!' Erster bis dritter Band.
 Insgesamt über tausend Seiten!
    Ronald war begeistert!
Die nächsten Tage verschlang er die Bücher fast am Stück. Er musste zugeben, die Schreibweise war für ihn neu. Die teilweise eingefügten englischsprachigen Begriffe machten ihm anfangs ein wenig zu schaffen.
    Den anfänglichen Schwierigkeiten zum Trotz; an den Stil von Karl May gewöhnte er sich sehr schnell. Mit der Beschreibung des Ich-Helden konnte er sich sehr gut identifizieren. Ein wenig unverständlich waren ihm die Passagen, die religiöse und zum Teil auch gesellschaftskritische Themen tangierten.
    Ronald war so begeistert von den Büchern, das er in seiner Klasse davon erzählte. Und wie es der Zufall wollte, besaß der Vater eines Klassenkameraden eine kleinere Sammlung von Karl May. Über diese lernte Ronald die Abenteuer von Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi im Vorderen Orient und in Südamerika kennen. Ferner begeisterten ihn einige in Deutschland und Frankreich spielende Romane und Geschichten.
    Als Ronald seine ersten beiden "Winnetou" gelesen hatte, nahm er den dritten Band in die Schule mit. Während des Nachmittags, als die Klassenleiterin einen Pioniernachmittag veranstaltete und die Kinder sich mit Spielen beschäftigten, nahm er sein Buch aus der Schultasche, setzte sich in eine Ecke und begann darin zu lesen.
    Es dauerte nicht lange, und seine Klassenlehrerin trat zu ihm.
    "Du liest aber ein dickes Buch, Ronald." sagte sie zu ihm. "Zeig' mal her!"
Mit diesen Worten nahm sie ihm das Buch aus der Hand und warf einen Blick auf den Titel.
    Ihr Lächeln versteinerte und sie räusperte sich.
    "Meinst du, dass so etwas das Richtige für dich ist? Woher hast du das?"
    "Hat meine Oma mitgebracht. Aus Frankfurt." Ronald grinste innerlich. "Am Main." setzte er scheinbar unschuldig hinzu.
    "Dieser Schriftsteller hat viele dumme Bücher geschrieben!" sagte die Lehrerin. "Sie sind früher von den Faschisten gedruckt und unter die Leute gebracht worden. Hitler hat ihn gelesen und in Westdeutschland wird er nach wie vor verlegt. Wie dieses Buch, das du hier hast. Es stehen viele Sachen darin, die nicht stimmen und die auch fremde Völker nicht gut darstellen. Er, damit meine ich den Schriftsteller, hat diese Länder und die Völker, über die er geschrieben hat, vorher nie gesehen. Zudem schreibt er seine Bücher aus überheblicher und religiöser Sicht heraus. Es ist nichts Gutes, was du da liest!1"
    Ganz klar, die Lehrerin hielt nichts von Karl May.
Wunderbar!
    Am selben Nachmittag war Ronald bei seinem Klassenkameraden zu Gast und lieh sich "Durch das Land der Skipetaren" und "Schloss Rodriganda" aus.
    Im Laufe der nächsten Jahre brachte die Großmutter von ihren Besuchen in Frankfurt weitere Bücher von Karl May mit. Durch Tausch und auch Kauf bei Bekannten brachte es Ronald in den nächsten Jahren zu einer respektablen Sammlung von fünfundfünfzig Bänden.
    Die May-Bibliothek war stadtbekannt und wurde gur genutzt!! Einige anerkannt vorbildliche Parteigenossen waren eifrige Leser seiner Bücher. Selbst linientreue Lehrer an seiner Schule liehen sich die Bücher gerne bei ihm aus.
    Bei mehreren schulischen Kontrollen auf sogenannte westliche 'Schund- und Schmutzerzeugnisse' wurde er mit Büchern von May oder auch Hans Dominik erwischt.
    Jedesmal blieb er unangetastet.
Hans Dominik war ein in den zwanziger Jahren und auch darüber hinaus sehr populärer Schriftsteller. Auch in der Bundesrepublik wurde er zum Teil überarbeitet gedruckt. In der DDR waren Druck  und Vertrieb seiner Bücher verboten; da er offiziell zu kapitalismus-verherrlichenden und angeblich dem Faschismus nahe stehenden Autoren gezählt wurde. Er stand sozusagen auf dem sozialistischen Bücherindex.
    Ronald hatte einen weiteren guten Freund, dessen Vater eine stattliche Sammlung von Dominiks Werken in die DDR-Zeit gerettet hatte. Binnen kurzer Zeit hatte er sich sämtliche Bücher ausgeliehen und kannte sie von vorn bis hinten.
    Neben damals populären Zukunftsromanen,  war Dominik Verfasser  diverser  Abhandlungen über naturwissenschaftliche Themen und deren Umsetzung in Wirtschaft und Technik. Auch die mathematisch-physikalischen Grundlagen kamen nicht zu kurz und wurden präzise und anschaulich erläutert.
    Der Stil von Dominik faszinierte Ronald und er gewann einen Großteil seiner naturwissenschaftlichen Bildung aus dessen Werken.
    Seine Zukunftsromane verschlang er geradezu.
Anfang der achtziger Jahre wurde May in der DDR rehabilitiert. Gegen den Besitz seiner Bücher war nun auch offiziell nichts mehr einzuwenden. Allerdings: bis zur Wende wurden nur einige seiner bekanntesten Werke neu verlegt. Wie auch immer: Ronald hatte auf jeden Fall einen enormen Vorsprung, zumindest was die Anzahl der Bände in seiner Büchersammlung betraf.
    Dominik blieb weiter verboten!
Neben den Büchern Dominiks begann Ronald, sich für die Werke von Jules Verne zu interessieren. Binnen weniger Wochen hatte er sich durch den Bestand der Stadtbibliothek gelesen.
    Verne war, im Gegensatz zu May und Dominik, in der DDR wohl gelitten und auch die Hollywood-Verfilmungen seiner bekanntesten Werke liefen im Ost-Kino rauf und runter. Bei diesen Veranstaltungen war Ronald Stammbesucher und von zwei dieser Filme war er dermaßen fasziniert, dass er keine Wiederholung im Laufe der beiden folgenden Jahre versäumte.
    Auch hier erfuhr Ronald von einem guten Bekannten, dass dessen Eltern einen Bestand von antiquarischen Verne-Bänden besaßen. Er gab er nicht eher Ruhe, bis er sie sich ausleihen und durchlesen konnte.
    Bei der Lektüre dieser prachtvollen Auflagen aus den 70-er und 80-er Jahren des 19. Jahrhunderts stellte er interessiert die zwischenzeitlich erfolgte Zensur in Vernes Werken fest. Der Stil und die Sprache der in Fraktur gehaltenen und reich illustrierten Originalausgaben gefielen ihm mit Abstand besser.
    Selbstredend hatte Ronalds Klassenlehrerin auch keine gute Meinung von den amerikanischen Verne-Verfilmungen, wie sie ohnehin es nicht begrüßte, dass im DDR-Kino westliche Schinken dominierten, die die Pioniere und FDJ-ler von den Errungenschaften des Sozialismus ablenkten und ganz und gar nicht vom Geiste des Marxismus und der Planwirtschaft durchdrungen waren.
    Der Klassenfeind war eben überall und besonders gern hockte er im Kinosaal oder versteckte sich im Bücherschrank. Von Radio und Fernsehen ganz zu schweigen; da war er immer auf dem Sprung!
    Ulbricht sei Dank! Wenigstens hatten die kinoverantwortlichen Genossen ein wachsames Auge auf die bewußtseinsvergiftenden Verfilmungen von Karl May und sahen zumindest bis in die frühen Achtziger von deren Import ab. Dafür gab' ja Gojko Mitic als Oberindianer.
    Glücklicherweise besaß sie ihren Fernseher, vor dem sie sich abends in ihre mediale DDR-Nische zurückziehen konnte. Hier war die Welt noch in Ordnung und sauber in Gut und Böse getrennt. Hier war der Klassenfeind chancenlos, denn Westfernsehen war für sie absolut tabu.
    Ronald erfuhr nie, ob May, Verne oder Dominik signifikant damit zu tun hatten; auf jeden Fall bekam er in diesem Schuljahr eine ziemlich miserable Beurteilung. Angeblich würde er sich durch vielfältige außerschulische Interessen zu sehr von der Schularbeit ablenken lassen und bei Pionierarbeiten zu wenig Aktivitäten entwickeln.
    Im Bereich des Möglichen lag es. Jedoch hatte er noch einige andere Interessen, die ebenfalls mit dem Charakter einer sozialistischen Schülerpersönlichkeit und Thälmann-Pioniers nur schwer vereinbaren ließen. Hierzu gehörten neben dem Lesen von Karl-May- und Hans-Dominik-Büchern auch der eifrige Konsum des nachmittäglichen und abendlichen Westfernsehens und Singen von staatsverunglimpfenden Liedern:

        "Pioniere voran, laßt die Eier sehn,
        Pioniere voran, laßt die Schwänze stehn.
        Rauf und runter die Pelle, die weiße Brühe spritzt,
        ja der Wichsfleck an der Decke, der sitzt!

        Pioniere, das Wichsen ist preiswert und tut gut.
        Pioniere, das Wichsen gibt Kraft und macht uns Mut!
        Im Puff ists zu teuer, das Taschengeld ist knapp,
        ach wie schön ists, uns pfeift einer ab!

        Pioniere, wichst fleißig, denn Wichsen bringt uns Geld,
        denn für Wichse verdient der Staat viel hartes Geld.
        Im Export sind wir Meister, da sind wir riesengroß,
        neben Wichse: Hemd und Jacke, Rock' und Hos'!"

Das war beispielweise eine solche Perle, frei kolportiert von Ronald, nach dem Original eines in der Schule zu singenden Jubel-Pflichtliedes auf die Pionierorganisation mit dem Namen des kommunistischen Hamburger Werftarbeiters.
    Beliebt war vor allem das Singen in den Pausen, auf dem Schulhof oder auch dem Nachhause-Weg nach dem Unterricht.
    Nur erwischen lassen durfte man sich nicht. Da konnte man sich neben den üblichen Kritiken harte Vorwürfe gefallen lassen, die bis zu 'Verächtlichmachung der sozialistischen Vaterlandes' und empfindlichen Disziplinarmaßnahmen, wie Einträge ins Klassenbuch und Mitteilung an die Eltern reichen konnten. In dieser Hinsicht waren manche Pädagogen sehr erfinderisch, fast wie der Schreiber der verballhornten Lieder.
    Bei Ronald wäre als erschwerender Umstand noch hinzugekommen, dass er es gewagt hätte, üble und ordinäre Wörter in den Mund zu nehmen oder gar aufzuschreiben! In solchen Dingen verstand der Vater überhaupt keinen Spaß und hielt als stadtbekannter Saubermann streng auf Reinlichkeit und sprachliche Disziplin.
    Dies hätte er ihm möglicherweise mehr angekreidet als die dichterische Leistung.
Glücklicherweise kam nie heraus, wer der kreative Nachahmungstäter war. Bestimmt kam es vom allgegenwärtigen Klassenfeind, vom Radio oder vom Fernsehen.
    So vermuteten es einige, offenbar nicht ganz so helle Parteigenossen.
Denn, Gott war's gedankt, konnte man an den meisten Orten der DDR allabendlich in eine Gegend auswandern, in der sozialistische Planerfüllung, die ruhmreiche Sowjetunion, sozialistische Parteidisziplin oder der proletarische Internationalismus ein eher untergeordnetes Schattendasein spielten.
    In die bewußtseinsvergiftenden Abgründe des Westfernsehens!