In Onkel Toms Hütte

oder: Der total durchgeknallte Schnapsladen

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Ein besonderes Erlebnis waren die nächtlichen Bier- und Schnapseinkäufe bei Onkel Tom in der Keilerstraße.
    Onkel Tom! Wie er wirklich hieß, musste wohl nur er selbst und die Polizei, die zuweilen bei ihm so manche zwielichtige Existenz hopp nahm.
    Bei Onkel Tom gab es Tag und Nacht Bier, Wein, Schnaps und Zigaretten zu kaufen. Kurz um, alles das, was das Herz eines Studenten oder Kabelwerkers in Gluckhausen begehrte. Man munkelte, dass man bei ihm gegen Zahlung eines hinreichenden Entgelts auch leichte Mädchen mieten könne. Genaueres wusste aber niemand.
    Nun war es aber gar nicht so einfach, bei Onkel Tom das Gewünschte zu erhalten. Gewitzt durch schlechte Erfahrungen mit Gesetz und Ordnungshütern, verkaufte Tom seine Ware nicht an jedermann. Um in seinen Berechtigtenkreis aufgenommen zu werden, benötigte der Neuling die  Bürgschaft eines bereits seit längere Zeit etablierten Kunden. Dies geschah dergestalt, dass der Novize zusammen mit dem alten Hasen zu ihm kam und Tom unter Zeugen per Handschlag zusicherte, dass er vertrauenswürdig sei und über die Geschäftsgrundsätze schweigen würde.
    Ronald gelang es, das Vertrauen eines bei Tom etablierten Saufbolds im  Knallkasten zu gewinnen, der auch bei Tom für ihn bürgte. Ab sofort besorgte er, sofern erforderlich und vor allem, wenn das Portmonee es zuließ, auch zur nachtschlafender Zeit das Gewünschte.
    Die nächtlichen Einkäufe gingen so vonstatten, dass man sich an die hintere Seite des Hauses von Tom begab, und die Klingel betätigte. Nach kurzer Zeit öffnete sich das Fenster und Onkel Tom sah heraus. Da diese Seite des Hauses und somit auch der Weg sehr schlecht beleuchtet waren, forderte Tom zumeist, dass derjenige sich einer Taschenlampe anzuleuchten habe. Notfalls tat es auch ein Streichholz. Mit gedämpfter Stimme rief man ihm seinen Wunsch zu und Tom nannte den Preis. Wurde man sich handelseinig, ließ Tom an einem Seil einen Korb herunter, in den der Besteller das Geld legte. Es war üblich, auch ein Trinkgeld hinzu zu geben. So erhielt man sich die Gunst von Tom.
    Tom nahm das Geld in Empfang und ließ darauf die Ware in dem Korb herab.
Überhaupt: Onkel Toms Klingel! Ein Unikat besonderer Güte! Da man vor langer Zeit den Klingeldraht durchschnitten hatte und auch Reparaturen nur dazu führten, dass die Klingel nach wenigen Tagen wieder defekt war, hatte Tom eine eigene, filmreife Erfindung kreiert.
    Durch ein Loch im Fensterrahmen führte ein Bindfaden hindurch, der, mit einem Löffel beschwert, bis zum Boden baumelte. Das andere Ende des Fadens wiederum war an einem Hammer befestigt, der in einem Kochtopf lag. Letzterer war mit einer uralten Bratpfanne abgedeckt.
Zog nun jemand an dem Bindfaden, genügte das klappernde Geräusch, um Tom zu wecken und unverzüglich nach seiner Kundschaft zu sehen.
    Insider erzählten übrigens, dass Tom vor einigen Jahren den Bindfaden noch an seiner großen Fußzehe befestigt habe.
    Um Toms Geschäfte rankten sich sagenhafte Gerüchte. Dem Umstand Rechnung tragend, dass sein Haus sich unmittelbar am  Gelände des Kabelwerks befand, und gar manche der dort beschäftigten Werktätigen zur Nacht starken Durst verspürten, hatte man versucht, Letzteren die Beschaffungsmöglichkeiten bei Onkel Tom zu erschweren. Da Verbote nichts nützten, wurde ein Maschendrahtzaun zwischen Fabrik- und Onkel Toms Gelände angebracht.
    Es war zwecklos: die Arbeiter umgingen den Zaun. Später, als das gesamte Gelände des Kabelwerkes mit einem Maschendrahtzaun umgezogen war, schnitten einige Unentwegte Löcher in den Draht und schlüpften problemlos hindurch.
In ihrer Not getrieben, veranlasste die Leitung des Kabelwerkes, einen stabileren und höheren Bretterzaun in der Höhe von Toms Haus zu errichten. Auch das nützte nichts! Mehrere Bretter wurden nach wenigen Tagen herausgerissen. Der Weg zu Tom war wieder frei!
    Selbst die vermeintliche Ultimo ratio, ein stabiler Eisenzaun mit Stacheldrahtbewehrung konnte die Durstigen nur kurzzeitig von ihren Besuchen bei Tom abhalten. Unweit des Zauns verlief eine Strecke des Werksverkehrs, der zum größten Teil per Bahn abgewickelt wurde. Kurzerhand beschaffte man sich eine Rangierlokomotive und befestigte an dem Zaun ein halbzölliges Drahtseil, welches man mit der Lok verband.
    Das Weitere war ein Kinderspiel.
Erst, als man einen tiefen Graben zog, und diesen mit Wasser füllte, hörten die nächtlichen Besuche der sozialistischen Brigaden bei Tom langsam auf.
    Ganz hartgesottene Burschen hatten zwar noch versucht, mit Bohlen ein Brücke über den schlammigen Graben zu verlegen. Nachdem aber bei schlechtem Wetter ein sternhageldichter Betriebshandwerker auf dem Rückweg von Toms gastlicher Stätte in den Graben gefallen und fast im Schlammwasser ersoffen war, gingen die nächtlichen Besucherzahlen vom Kabelwerk bis auf Einzelfälle zurück.
    Tom betrachtete das Vorgehen der Betriebsleitung natürlich als üble Geschäftsschädigung, verzichtete aber aus naheliegenden Gründen auf Klage. Seine Umsätze gingen trotzdem prächtig, denn er hatte noch genug andere Kunden.
    Eine Augenweide waren seine Wareneinkäufe. Mit einem uralten, laut knatterndem Trabant 500 Kombi ging er auf Tour, begleitet von seinem Hund, einem fast kindsgroßen Dobermann. Der Trabant, aus dem die Rücksitze entfernt waren, war auf der Rückfahrt zumeist beladen bis zum Dach. Auf demselben waren ebenfalls mehrere Bier- und Schnapskisten befestigt. Man erzählte, dass Tom zuweilen derartige Mengen an Schnapsflaschen transportierte, dass die hintere Achse des Trabis Gefahr lief, auf dem Straßenpflaster aufzusitzen. Der Dobermann saß während der Transporte auf dem Beifahrersitz. Meistens war er nicht angeschnallt!
    Das Haus, in dem Onkel Tom wohnte, glich einer filmreifen Kulisse für abschreckende Gangsterfilme aus den finstersten Vierteln von New York oder Chicago.
    Wahrlich, manche Häuser der South Bronx konnten nicht verwahrloster aussehen. Wer es nicht besser wusste, konnte kaum glauben, dass im Haus noch jemand wohnte. Tom und sein Beifahrer hausten im Dachgeschoss und das Allerheiligste, in Insiderkreisen als der "Blaue Salon" bekannt, spottete jeglicher Beschreibung.
    Seit Jahrzehnten wurde nicht mehr tapeziert, was aber auch nicht nötig war. Bier- und Schnapskisten türmten sich an den Wänden bis zur Decke und versperrten den Blick auf die kahlen Backsteinwände.
    Ein Bett gab es nicht mehr, seit es einige Stammgäste im Suff zerhackt und aus dem Fenster geworfen hatten und Tom aus praktischen Erwägungen auf eine Neuanschaffung verzichtete. Schlafen war kein Problem, da der Fußboden mit alten Lumpen und Zeitungsresten übersät war, die man zusammenschieben und auf die man sich bequem zur Ruhe legen konnte.
    Mit der Toilette war es ebenfalls Fehlanzeige! Dazu gab es das Fenster, die unteren Etagen und das Kellergeschoß!
    In das uralte Sofa waren mehrere riesige Löcher hineingebrannt, die sich aber wunderbar als Flaschenabsteller eigneten. Als Tisch dienten zwei alte Bohlen, die stilvoll über je einen Bierkastenstapel gelegt waren. Fast wie in einer Äppelwoi-Kneipe in Hessen.
    Ein Tag und Nacht flimmernder und krächzender Schwarzweißfernseher erfüllte die Höhle mit Leben. Beleuchtet wurde das ganze Stillleben von einer nackten Glühlampe, die an zwei Klingeldrähten von der Decke baumelte und bei manchen Gelagen schon mal zerdeppert wurde, sodass gleich die Haussicherung mit herausflog, da Tom aus Kostengründen die Wohnungssicherung mit einem dicken Nagel überbrückt hatte.
    Zur Parterre des gastlichen Hauses gab es weder Türen noch Fenster. Der Keller war angefüllt mit Bauschutt und Müll, zum Teil mit kniehohem Schlammwasser, das mit dem Regen durch die ebenfalls durchlöcherten Kellerfenster und offenen Lichtschächte eingedrungen war.
     Auch die erste Etage hatte nur noch wenige, nicht eingeschmissene Fensterscheiben. Die an Toms Wohnung angrenzenden Fenster wiesen ebenfalls beachtliche Löcher und Sprünge auf. Bei windigem Wetter zog und pfiff es in dem Haus, dass es eine wahre Freude war.
    Durch diese unfreiwillige Belüftung war allerdings der Geruch gewisser menschlicher Hinterlassenschaften in den unteren Geschossen und im Keller nicht mehr ganz unerträglich.
    Eben Onkel Toms Hütte!
Wie dem auch war, durch die nächtlichen Einkäufe bei Onkel Tom konnte Ronald so manche Mark Profit einstecken, die dann auf Umwegen wieder bei Tom oder auch im – unweit gelegenen – Knallkasten landete ...