Völkerfreundschaft in DDR-Praxi!

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Der proletarische Internationalismus in praxi


Die Besatzung vom Zimmer 235 hockte wieder einmal im Knallkasten, krakeelte und schwärmte von guten alten Zeiten und rühmten sich ihrer Sex-Erlebnisse der letzten Tage.
    Mit einmal schlug jemand mit der Faust auf den Tisch:
    "Prost, Mädels!"
Sie blickten auf.
    "Oha, der olle Kongo! Hi, alter Saufbold!"
    'Kongo!' Mit bürgerlichem Namen hieß er Robert Müller.
Besser bekannt war er in einschlägigen Studentenkreisen unter dem Namen 'Kongo-Müller', eben 'Kongo'.
Warum er diesen makaberen Spitznamen trug, wusste niemand so richtig. Pikant war an der Sache, dass er im Studentenwohnheim zusammen mit zwei Schwarzafrikanern, einem Algerier und einem Mongolen gemeinsam in einem Zimmer wohnte.
    Wahrscheinlich nannte man ihn deswegen so.
Kongo-Müller war Student wie sie, ehrenamtliches SED-Parteileitungsmitglied der Hochschule und außerdem NVA-Luftwaffenleutnant der Reserve. Gleichwohl, Ronald mochte ihn sehr, nicht zuletzt, weil er saufen konnte wie ein Loch, alles vögelte, was nicht bei "drei" auf den Bäumen war und im Suff am liebsten preußische Militärmärsche und Heinos Fahrtenlieder hören wollte.
    An manchen Wochenenden, wenn das Wohnheim leer stand, hockten sie nachts bei Kerzenlicht und 'Blauem Würger' im Zimmer 235, meist gemeinsam mit Tommi, und ließen sich von Ronalds Radaumaschine mit den historischen und im Lande verbotenen Musikwerken zudröhnen. Dann schwärmten sie von ihren glorreichen Zeiten bei der Armee und johlten über ihre seinerzeitigen Streiche.
    Die Schwarzen in Kongo-Müllers Hauptquartier hießen Benny und George und der Algerier wurde Ali Pascha, zuweilen auch Sultan Achmed gerufen! Den Namen des Mongolen hingegen konnte sich von den Saufbrüdern niemand merken, geschweige denn aussprechen.
     Der Einfachheit halber nannte man ihn anfangs Dschinghis Khan.
Irgendjemand kam aber noch auf die Idee, dass man ihn auch Attila nennen könne, nach dem Hunnenkönig zu den Zeiten der Völkerwanderung. Das kam an, war kürzer und ließ sich gut merken.
    Dschinghis Khan nahm es erfreut zur Kenntnis.
Im Gegensatz zu seinen unfreiwilligen Namensgebern war Attila alias Dschinghis Khan allerdings eine Seele von Mensch. Herzensgut und konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Obwohl er sich an den Saufgelagen nur selten beteiligte, erfreute er bei den Saufbrüdern großer Achtung. Man mochte ihn einfach.
    "Mensch, Dschinghis Khan,", sagte Tommi einmal zu ihm, als sie mal wieder bis zur Schwelle der Besinnungslosigkeit besoffen waren. "Dein Namensgeber hat doch auch gesoffen wie das wilde Vieh. Hat alle unter den Tisch und wieder hoch gesoffen. Und danach noch sieben Weiber gevögelt. Nimm dir mal ein Beispiel dran! Wenn du schon nicht vögelst, dann sauf' wenigstens mal ordentlich mit uns! Wenn du wieder daheim in deiner Jurte hockst, is' aus mit dem schönen Schnaps und den vielen Weibern! Dann haste nur noch Schafe oder Ziegen um dich. Mäh, mäh! Na, ob das das Wahre ist?"
    Und er erzählte etliche Hinterwäldler- und Sodomistenwitze.
Dschinghis Khan alias Attila grinste nur und bedankte sich ...
    "Mensch, Männer" sagte Kongo-Müller. "Was ist, kann ich mich zu euch setzen?"
    "Tja, neuer Kunde, neue Runde, Kongo!" sagte Tommi.
    "Ja, ist klar, ihr Saufbolde." grinste Kongo-Müller. Die nächste Trommel geht auf mich.
Eine Trommel war ein rundes Tablett, welches zwölf große Gläser Bier fassen konnte.
    "Was gibt's, Kongo, alter Schluckspecht?" fragte Ronald. "Was machen deine Untermieter? Und wie geht's Attila?"
    "Gut gut! Aber ihr glaubt gar nicht, Leute, was ich letzten Abend erlebt habe. Wirklich unglaublich!"
    "Was denn, erzähl' mal!"
    "Nein, es ist nicht zu glauben!" prustete Kongo los. Irgendwie gelang es ihm vor Lachen nicht, klare Sätze zu formulieren.
    "Nee, sowas glaubt mir kein Mensch. Nicht mal ihr!"
    "Ah, ja, da kommt Trixi ...Trixi, eine Trommel bitte!"
Die Kellnerin brachte das Gewünschte.
    "Hier, ihr Saufbolde! Und zwölf Mark bitteschön."
Kongo reichte ihr fünfzehn. "Ist okay. Stimmt so!"
    Trixi hob erstaunt die Augenbrauen. "Oh, reiche Gäste. Gefällt mir!" Sie stellte die Gläser auf den Tisch, grinste breit und ging weiter.
    "Mensch, Kongo, du versaust die Norm!" maulte Martin. "Bei uns ist schon wieder Ebbe in der Kasse!"
    "Aber, es gab doch erst vorgestern Stipendium?" sagte Kongo. "Habt Ihr schon wieder alles versoffen?" Er lachte.
    "Ja, leider!" murrte Tommi.
    "Ach nee! Du hast gerade gut reden." entgegnete Martin und Ronald nickte heftig. "Schleppst uns nach Ostberlin, ins Café Nord, säufst da die teuersten Schnäpse und rauchst die teuersten Zigaretten. Ist doch klar, das da nichts übrig bleiben kann."
    Das 'Café Nord' war eine legendäre berühmt-berüchtigte Nachtbar im Norden Ostberlins. Die Saufbrüder waren dort zuweilen auch zu Gast. Zumeist am Abend bis zum frühen Morgen, wenn es das monatliche Stipendium gab oder sie durch diverse Schwarzarbeiten ihre Finanzen hinreichend aufgebessert hatten. Billig war es nicht, aber sie fanden es toll!
    "Ja und?" entgegnete Tommi. "Wer ist denn mitgegangen? Und wer hat dort gesoffen wie 'n Loch. Wer konnte denn den Hals nicht voll genug kriegen? Und wer hat die Weiber freigehalten? Na?"
    Martin knurrte etwas Unverständliches und verstummte.
    "So! Prost Halunken!" warf Pichelmatti ein.
Diesen Spitznamen hatte er selbstredend von seinem Lieblingshobby.
    Pichelmatti, kurz Pichi, konnte einen ganzen Abend, ohne sich vom Stuhl auf zu bewegen, sitzenbleiben und einen ganzen Kasten Bier, insgesamt fünfundzwanzig Flaschen zu einem Drittelliter am Stück vertilgen. Dann taumelte er aufs Klo und kam nach einigen Minuten wieder. Erleichtert warf er sich aufs Bett und fiel in den Schlaf des Gerechten. Während dieser Zeit konnte neben ihm eine Bombe detonieren oder auch Brennoli seine Brüllmaschine an den Fünfhundert-Watt-Verstärker klemmen. Pichi hörte und sah nichts mehr. Bis zum frühen Morgen!
    "Prost, auf Ex, Freunde!" setzte er hinzu. Schwuppdiwupp, war das Glas auch schon leer.
    "Ah. das war gut! So, Kongo, nun erzähl mal, was war denn los?"
Dieser prustete wieder lauthals.
    "Ja, also Leute: Gestern Abend, komm ich vom Rugby auf meine Bude. Trink dort mein abendliches Bier und Schnäpschen ..."
Kongo-Müller war außerdem eingetragenes Mitglied im örtlichen Rugby-Verein.
    "Bier und Schnäpschen, hahaha!" lachten sie. "'Nen halben Kasten Bier und 'ne große Pulle Vierzigprozentigen meinst du wohl?"
    "Nein, soviel war's nicht!" verteidigte sich Kongo.
    "Na, dann waren 's eben zwei Flaschen Bier weniger, vielleicht auch 'n Doppelter."
    "Nee, soviel war's nicht, denn wenn ich so gesoffen hätte, hätt' ich gar nich' mitbekommen, was ich euch jetzt erzählen will. Nun hört mir endlich mal zu!"
    Sie hielten wirklich still.
    "Gut, also ich trink' mein Bier und Schnaps und leg mich pennen. Es dauert nicht lange, geht das Licht im Zimmer an und zwei von den Rugby-Eiern sind im Zimmer. Ich hab' keine Ahnung, was sie vorhatten; vielleicht wollten sie ja zu mir. Hab‘ aber so getan, als ob ich fest schlafe. Sie kommen zu mir, wollten mich tatsächlich wecken, aber ich hab' so getan, als ob ich hackedicht besoffen wär'.
    "Das haben sie natürlich auch sofort geglaubt, Kongo!", kicherten die Umsitzenden. "Bist ja auch so wie wir, jeden Abend oder jeden zweiten Abend dicht. Will heißen, solange wir Geld haben, hihihihi!"
    "Wie ihr meint! Jedenfalls, ich rühr' mich nicht. Den beiden haben's dann mit mir aufgegeben. Ich habe aber gemerkt, dass auch sie nicht ganz nüchtern waren. Denn sie hatten ein ziemliches Lallen in der Aussprache. Ja, und dann hör' ich, wie irgendwas knackt und knistert und die zwei laut lachen. Dann Schritte und die Tür knallt - ja, und  weg waren sie."
    "Ja, und weiter?" fragte Ronald.
    "Also, ich steh auf, geh' zur Tür und will 's Licht ausmachen. Aber irgendwie frag' ich mich, was haben die nur gemacht? Ich schau mich im Zimmer um.
    Da sah ich die Bescherung!
Von Bennys neuen Radiorecorder, ihr wisst schon, den er sich vorgestern aus Westberlin mitgebracht hat, haben die Idioten die Antenne total verbogen und eingeknickt. Hing da wie'n Schwanz nach 'm Vögeln.
    "Nich' schlecht, aber n' bisschen dünn, oder nicht?!"
    "Nein, nein, ganz normal. So wie deiner, Brennoli!"
    "Na, na, na!"
    "Und weiter?" fragte Pichi, der soeben das nächste Bier auf Ex vertilgt hatte.
    "Ja, jetzt fängts erst richtig an! Hört doch mal zu, Leute!
Also, ich denk mir, was soll's und was geht's mich an? Ich war's ja nicht! Und mir gehört der blöde Recorder ja auch nicht. Andererseits: es ist schon ärgerlich, wenn du siehst, wie er einfach so in' Westen fahren kann, geradeso wie unsereins, der sich in die S-Bahn setzt und rein nach Ostberlin fährt. Ja, und schleppt er noch so 'nen Recorder an. So ein Angeber! Und unsereins wird hier so ein Kram von Völkerfreundschaft und Gleichberechtigung vorgefaselt1.
    "Is' richtig, aber dafür kann Benny ja nichts. Würden wir doch an seiner Stelle genauso machen. Oder?"
    "Jaja, die Scheiß-Mauer! Aber egal - ich hab mich dann wider ins Bett gelegt, und gepennt. Kurz nach mir muss Attila gekommen sein und sich ebenfalls hingelegt haben. Ihr wisst ja, er pennt mir schräg gegenüber."
    "Wenn du's sagst, Kongo!"
    "So weit so gut. Aber: 's dauert nicht lange, dann geht die Tür auf. Ich werd' wieder wach!
Benny kommt 'reingetrampelt. Hat gestunken wie 'ne Hafennutte! Puahh!!"
    "Was du alles so weißt! Aber vielleicht war er gerade in Westberlin, im Hafennutten-puff!" lachte Ronald.
    "Gut möglich! Jedenfalls: der sieht seinen Recorder und die Antenne! Die mit dem hängenden Schwanz, Brennoli!
    Zuerst hatt' ich keine Ahnung, wie der drauf gekommen ist, aber er muss Attila im Verdacht gehabt haben. Er grunzt, geht hin zu dem sein' Bett und tritt davor. Und dann legt er im feinsten, gepflegten Kasernenhofton los. Ich hätt’s nich’ besser hingekriegt:
    'Ha!! Mongole! Steh auf! Zack zack!!'
    Ich denk', ich scheiß' mir ins Jackett!
    Attila hör' ich nun: ,was ist los Benny?'
    'Ich sagte: 'Mongole, steh auf!' Aber sofort!'
    'Häh? Sag mal, Benny, biste dumm in deinem schwarzen Kopf oder was?!'
    Ich denk, ich scheiß' mich ein vor Lachen!"
Kongo-Müller zog Grimassen und Fratzen wie ein geisterbeschwörender Voodoo-Fuzzi.
    Die vier am Tisch grölten los und wollten sich nicht mehr beruhigen.
    "Das is' nicht wahr, Kongo?"
    "Doch, Leute! Und weiter im Text! - Jedenfalls, Benny hat wohl jetzt rot gesehen. Und legt los:
    "Mongole, wennde nich sofort aufstehst, dann hau' ich dich auf die Fress'!"
    Ihr wisst ja, Benny kann kein perfektes Deutsch.
    "Dann hau' ich dich auf die Fress'! Ich glaubs einfach nicht!" japste Martin.
    "Und, hat er ihm die Schnauze poliert?" fragte Pichi.
    "Er war kurz davor!" nickte Kongo. Aber Attila hat ihn noch gefragt:
    'Benny, was ist los? Biste krank. Haste Aua im Kopf?'
    'Nein!!' brüllte Benny dann. 'Du hast meine Antenne puttgemacht; die von mei'm Westrecorder! Mongole! Nur du kannst es gewesen sein! Du hattest einen Grund!! Steh' endlich auf, wenn ich mit dir red!!'
    Richtig! Da fiel's mir ein: Attila hat letzte Woche Benny gebeten, ihm ein paar Joints aus Westberlin mitzubringen. Aber das arme Schwein, also ich mein' hier Attila, hat ja kein Westgeld. Und so hats Benny halt nicht gemacht. Nix Westgeld, nix Hasch! Daher hat er wohl angenommen, dass sich Attila an ihm gerächt hat."
    "Ja und, hat's denn nun Schläge gegeben?"
    "Ach, was!" erwiderte Kongo-Müller. In seiner Dusseligkeit hat Benny wohl vergessen, dass Attila Karate kann. Oder Kung-Fu oder so was Ähnliches. Wenn Benny zugeschlagen hätte, hätt' Attila wahrscheinlich 'n Westpaket aus ihm gemacht und aus dem Fenster über die Mauer geschmissen!
    "Ah ja, das ist gut!" unterbrach ihn Ronald lachend. "Du meinst aber jetzt wahrscheinlich ein Ostpaket, hihihihi!"
    Kongo-Müller stutzte und nickte dann grinsend.
    "Stimmt, so hab’ ich das gar nicht bedacht, Brennoli! - Naja, Benny hat dann noch furchbar geflucht, auf Gott und die Welt geschimpft; ja und dann war er mit einem Mal wieder weg. Hab' ihn bisher noch nicht wiedergesehen. Vielleicht liegt er gerade randvoll und rattendicht in irgend 'ner Gosse. Oder läßt sich im Hafennuttenpuff einen blasen, was weiß ich! Jedenfalls: das war mal ein Erlebnis, was man nicht alle Tage hat! Herrlich, Mädels!"
    "Stimmt, so was erlebt man nicht oft!" pflichteten ihm die Umsitzenden mit leuchtenden Augen bei. "Nich' mal hier! Na denn, Prost, ihr Säufer!"
    "Prost Halunken!" grölten sie allesamt und die Biergläser stießen zusammen.
Der Abend wurde noch lang und als sie nach Kneipenschluß laut krakeelend in Richtung Wohnheim torkelten, war Kongo-Müllers Wehrsold-Guthaben alias sein Stipendium ebenfalls auf einen bedenklich geringen Betrag zusammengeschmolzen.
    Benny war ebenfalls zurückgekehrt und lag schnarchend im Halbkoma, in voller Montur, Schuhen und mit dem Kopf zum Fußende in Ali Paschas Bett ...