Unglaubliche Zustände!

...
Im Sommer 1982 kam es im Kollektiv der studentischen Trunkenbolde zum Showdown!
    Seit Jahresbeginn hatte die Hochschulleitung einen neuen Studentendirektor in Amt und Würden gesetzt.
    Sein Name war Lemmemann.
Lemmi, wie er unter der Hand genannt wurde, wäre normalerweise der ideale Wunschkandidat und Protegé für die auf dem Zimmer 235 und einigen anderen Buden hausenden Trunkenbolde, Radaubrüder und angeblichen Sittenstrolche gewesen. Durst hatte er für zwei, wovon auch seine rote Nase schon von weitem kündete.
    Aus irgendeinem Grunde betrachtete er aber das fröhliche Studentenleben mit Argwohn.
    Emil von der 234 vermutete einmal, dass Lemmi strafversetzt wäre und es sich wohl nicht leisten könne, ihr Treiben zu ignorieren.
    Diese Vermutung konnte nie bewiesen werden, war aber für sie plausibel. Fakt war, dass Lemmi recht gut über ihre Saufgelage und Orgien Bescheid wußte,. Seine Informationsquellen gab er natürlich nicht preis.
    "Wenn Sie wüßten: Wir erfahren alles, was Sie hier machen!" sagte er einmal  wie nebenbei zu Ronald.
Der nickte, tat zerknirscht und grinste still in sich hinein.
    "Wenn du wüßtest, was du alles nicht weißt!" dachte er für sich.
So war es in der Tat.
    Gegen gelegentliche nächtliche Saufgelage und lautstarken Rudelbums hatte Lemmi im Grunde nichts einzuwenden, was er auch offen zugab.
    Jedoch fand er in den folgenden Wochen drei Anlässe, um sich von der krakeelenden und durstigen Studentenplage zu befreien.
    Sein erstes Opfer war Emil vom 235-er Nachbarzimmer.
Es war an einem Sonntagabend im Januar, nach der Rückkehr aus einem Heimfahrtswochenende.
    Wie üblich, hatte man sich zu Hause reichlich mit flüssiger Nahrung eingedeckt, die dann nach der Ankunft auf der 235 brüderlich verteilt wurde. Man feierte und krakeelte, bis die letzten Tropfen Schnaps und Bier vertilgt waren.
    Meistens war dies weit nach Mitternacht.
Aus einem später nicht mehr nachvollziehbarem Grund hatte sich Emil an diesem Abend über irgendetwas furchtbar geärgert. Man vermutete, dass er im Suff bei einer angebaggerten Studentin abgeblitzt war.
    In ihrem Domizil wurde an diesen Tagen renoviert und so erhielten die Wände einen neuen Anstrich und auch die Sockel und Scheuerleisten.
    Im Flur vor der 235 standen noch einige Farbeimer und Pinsel.
Emil kam fluchend ins Zimmer und goß sich ein halbes Bierglas vom "Blauen Würger" auf Ex hinter die Binde. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund, verließ  den Raum und kam nach einigen Minuten wieder zurück.
    "Jetzt ist mir wohler!" schnaufte er und griff erneut zur Pulle.
Niemand dachte sich etwas dabei und die Fete ging weiter.
    Wenige Minuten später hörten sie johlende Stimmen vor ihrer Tür.
    "Arschloch! Hohohoho!"
    "Solche Schmierfinken! Unglaublich!"
    "Das gibt's ja wohl nicht. Wer war die Sau?"
Emil grinste und wies zur Tür.
    "Das war ich!" tönte er stolz und nahm wieder einen großen Schluck.
Das war interessant und mußte sogleich erkundet werden.
    Ronald ging vor die Tür und ihm fiel der Unterkiefer herunter.
In riesigen, fast meterhohen und armdicken schwarzen Lettern stand das beliebteste Schimpfwort der Deutschen an der frisch gestrichenen Wand!
    Mit drei Ausrufezeichen und zweimal unterstrichen!
Obwohl Emil am nächsten Morgen versuchte, sein Meisterwerk wieder ungeschehen zu machen und zu überstreichen, war es bereits zu spät.
    Lemmi bekam Wind von der Sache und startete sein erstes Exempel.
Emil wurde für zwölf Monate "zur Bewährung in die Produktion" geschickt.
    Mit andern Worten: Er wurde für ein Jahr exmatrikuliert, kurz: geext.
Die nächste Breitseite traf Willi aus der 309.
    Dieser hatte im Suff versucht, Günter, den Hausmeister, zu verprügeln, als dieser ihn aufgefordert hatte, seinen ruhestörenden Lärm zu unterlassen. Zudem hatte er ihn in die Backe gebissen!
    Willi hatte bis weit nach Mitternacht bei Vollmondschein, in Begleitung einer riesigen 'Blauen Würger'-Flasche unter Günters Fenster gesessen und gemeinsam mit einigen berüchtigten Saufbolden, die Lieder der "Drei Besoffskis" recht eigenwillig von sich gegeben.
    Sprich: Sie jaulten zum Steinerweichen.
Der gewünschten Beendigung der "ordinären Katzenmusik", wie es später hieß, wurde nicht nachgekommen und daraufhin dem Interpreten seine Pulle weggenommen.
    Daraufhin eskalierte die Sache. Die Fäuste flogen und die Zähne schnappten zu!
Niemand, selbst Willi nicht, konnte später erklären, warum er zubiß.
    Hunger wäre es angeblich nicht gewesen.
Wie auch immer: Günter lief die nächsten Tage mit einem riesigen Pflaster auf der Backe herum und auch Willi zog für ein Jahr aus dem gastlichen Hause aus.
    Als er nach zwölf Monaten pünktlich wieder einzog,  hatte er seinen neuen Namen weg und war als 'Willi der Werwolf' und das Gespenst "Schulzeschläger Backenbeiß" bekannt. Er war sozusagen post mortem und nach seiner Reinkarnation in diese erlesene Gesellschaft aufgenommen worden.
    Lemmi schnitzte die zweite Kerbe in seinen Colt!
Aller guten Dinge waren drei und als Letzten in dem Triumvirat hatte es Ronald erwischt!
    Lemmi fand seinen gewünschten Anlaß, nachdem Ronald und Tommi gemeinsam mit Kongo-Müller und Timmi zum Zahltag einen dreitägigen Nonstop-Wochenendausflug in die örtlichen Lokalitäten veranstaltet hatten. Nach ihrer mitternächtlichen Rückkehr in die 235 hatte Ronald die Tür von innen verschlossen, seine Radaumaschine nebst Diskoverstärker auf maximale Lautstärke gestellt und sich dann nach einigen kräftigen Zügen aus der letzten Würgerpulle gemeinsam mit den drei anderen Wandergesellen schlafen gelegt. Besser gesagt, wie ein Sack zusammengekracht. Niemand konnte mehr eingreifen! Selbst Timmi, das unmenschlich trinkfeste Gespenst im infernalischen Sextett, hatte die Grenzen seiner Schnapsresistenz erreicht und schlief wie eine Leiche, lang ausgestreckt auf dem Fußboden.
    Ronald hatte es wenigstens noch auf einen Stuhl geschafft.
Das frisch aufgelegte Band hatte eine Laufzeit von knapp vier Stunden, was allemal genügte. Dummerweise war es auch noch das mit den von Kongo-Müller so geliebten preußischen Märschen und Heinos Fahrtenliedern.
    Hackedicht, wie sie waren, hörten und sahen sie nichts mehr. Erst als man die Sicherung herausdrehte, kehrte langsam wieder Ruhe in das jetzt putzmuntere Wohnheim ein und auch den sonst eher hartgesotten Kakerlaken verging das Sausen in den Ohren.
    Ronald zog aus seiner geliebten 235 aus und quartierte sich zwei Straßenecken weiter ein.
In einem Arbeiterwohnheim des örtlichen Kabelwerkes.
    Für ein Jahr nahm er dort eine Arbeit als  Hilfsmonteur auf!
Die nächsten Abenteuer standen ihm bevor.