Die vormilitärische Saufausbildung - ok, hier schon mal für Fortgeschrittene

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  Am späten Nachmittag wurden sie eingekleidet und bekamen ihre Ausrüstung zugeteilt. Nicht gleich allzuviel: eine Uniform ein Stahlhelm, eine Schutzmaske mit Schutzanzug und ein Klappspaten. Weitere Gegenstände kamen in den kommenden Tagen hinzu. Besonders segensreich sollte sich die Zuteilung von Feldflaschen erweisen.
    Am Abend besuchten sie den "Supermarkt" des Lagers. Es gab nicht allzuviel im Angebot. Was sie aber mit Befriedigung erfüllt; es gab Bier und Schnaps en masse. Sofort deckten sie sich mit einem großen Kasten Halbliterflaschen Bier ein und machten es sich vor ihrer "Kaserne" auf dem vorgelagerten Raucherplatz bequem.
So geschah es, dass sie am Abend des ersten Tages zwar noch keine vormilitärische Ausbildung absolviert hatten, aber schon wieder ziemlich besäuselt und als fidele Kameraden bekannt waren ...
    "Hundertschaft ...Nachtruhe beenden! Fertig machen zum Frühsport!!"
Laut schallte der erste Weckruf durch die Baracke.
    Kalle und Ronald hörten nichts. Erst nachdem man sie ziemlich derb an den Schultern gerüttelt hatte und mehrfach an ihr Bett getreten hatte, kamen sie zu sich.
    "Los, aufstehen, ihr Penner! Sportsachen an und 'raus zum Frühsport!"
Fluchend wälzten sie sich aus den Betten und zogen ihre Sportsachen an ...
    In den folgenden Tagen freundeten sie sich mit einigen Gleichgesinnten an.
Da gab es Norbert. Ein Kerl wie ein Baum. Pfarrerssohn aus einem Nachbarort bei Neuburg mit Berufswunsch Theologie und mit gewaltigem Bierdurst gesegnet.
Oder ein Schüler aus Neuburg, lang, hoch aufgeschossen, ein Witzbold vor dem Herrn und ebenfalls immer durstig.
Er trug eine Augenklappe und hatte sofort seinen Spitznamen weg:
    'Mosche Dayan' oder kurz 'Mosche'.
Mosche war ein Original. Er machte kein Hehl daraus, später nicht zur Armee und höchstens als Bausoldat dienen zu wollen.
    Trotz seiner Abneigung gegen die Armee war er ein Fan preußischer Militärmusik und Verehrer der letzten beiden Wilhelms und des zweiten und dritten Friedrich.
Wenn er, wie an fast jedem Abend, mit Bier abgefüllt war,  saß er gern mit Ronald und Kalle zusammen und sie trieben ihre Späße.
    "Wir sind die alten Monarchisten!" war sein Lieblingsspruch. "Stimmts?"
    "Jawoll, Herr Mosche!" bekräftigten die zwei zackig und mit Grinsen im Gesicht!
    "Sag' ich doch!" antwortete Mosche zufrieden. "Unser Kaiser, er lebe hoch!"
Beim Kaiserhoch erhoben sie sich und prosteten sich grinsend zu.
    Obwohl den Ausbildern diese Äußerungen nicht gänzlich verborgen blieben, wurde nicht viel dagegen unternommen. Im Gegenteil, an manchen Abenden saßen sie einträchtig mit den Trunkenbolden zusammen und beteiligten sich an den Gelagen.

        "Wir hamm' den Kanal, wir hamm' den Kanal
        Wir hamm' den Kanal noch lange nich 'voll.
        Wir hamm' den Kanal, wir hamm' den Kanal
        Wir hamm' den Kanal noch nich 'voll. Jawoll!"

dröhnte es zur der Melodie von 'Preußens Gloria', wobei sie im Takt mit ihren Bierflaschen auf den Tisch hieben.
Oder der Melodie des bekanntesten Marsches von Johann Strauß:

        "General Schlampampes lag im Bett
        mit seiner Frau Elisabeth,
        sie lagen beide Arsch an Arsch
        und furzten den Radetzky-Marsch."

Man konnte auch sentimental; nach 'Sloop John B.' der Beach Boys:

        "Schneibe-Kramlach, das miese Nest
        Das hassen wir wie die Pest.
        Von ferne erklingt ein Lied, das Sehnsucht heißt.
        Wir wollen nach Haus!
        Wir wollen nach Haus und nicht zurück.
        Wir haben die Schnauze voll, wir wollen nach Haus.

        Dem Hängolin im Tee,
        dem sagen wir bald Ade;
        von ferne erklingt ein Lied, das Sehnsucht heißt.
        Wir wollen nach Haus!
        Wir wollen nach Haus und nicht zurück.
        Wir haben die Schnauze voll; wir wollen nach Haus!"

Solche kollektivbildenden, musikalischen Beträge wurden durchaus positiv bewertet.
    Empfindlich war man jedoch gegenüber dem Konsum von Westradio und -fernsehen, wie sie einmal auf drastische Weise erleben mussten.
    Ein Kamerad aus der Nachbarstube hatte am späten Abend seine Kofferheule  auf Bayern Drei und dummerweise auch ziemlich laut eingestellt.
    Der Verkehrsfunk-Jingle dröhnte zu unerwarteter Zeit durch die Baracke.
Schleiferheini stürzte herbei!
    "Achtung!"
    "Wem gehört dieses Radio?!" brüllte er, das die Scheiben zitterten.
    "Mir! Kamerad Hundertschaftskommandeur!" antwortete der Delinquent in strammer Haltung.
    "Westradio ist im Objekt streng verboten! Das wissen Sie!" brüllte Heini. "Das hat Folgen, Genosse,..äh, Kamerad! Morgen stehen Sie vor der Front und es wird dann Ihrer Schule mitgeteilt!!"
    Au weia!
Glücklicherweise besoff sich Heini mit seinen Schleiferkameraden an diesem Abend noch so heftig, dass er sich beim Morgenappell vertreten lassen mußte.
    Der Anschiß fiel aus und wurde auch nicht weiter erwähnt.
Die kommenden Tage verstrichen mit militärischer Ausbildung. Exerzieren, Ausbildung im Gelände, Orientierungsmärsche nach Karte und Kompaß, Taktikausbildung, Schießen und natürlich der Rotlichtbestrahlung, sprich Politausbildung.
    Letztere nahm einen Großteil ihrer Ausbildung in Anspruch. Sie war fast immer langweilig und trist. Kaum jemand hörte richtig hin. Die Trunkenbolde nutzen die Zeit, um sich von den Mühen des Vorabends auf der Raucherecke oder des Ausgangs zu regenerieren.
    Sie verschliefen das öde und nervige Gefasel über den bösen Imperialismus.
Höhepunkt ihrer Ausbildung sollte eine Abschlußübung werden, die gegen Mitternacht des vorletzten Tages beginnen sollte.
    Die Übung begann pünktlich. Kalle und Ronald  waren gut vorbereitet, indem sie ihre Feldflaschen mit Kornbrand und 'Hängolin-Tee' gefüllt hatten.
    Mosche hatten sie bereits in den ersten Stunden verloren.
Von der letzten monarchistischen Zusammenkunft am Vorabend war er noch so besoffen, dass er sich während der ersten Zigarettenpause in eine Sandkuhle, unweit vom Lager, zum Schlafen gelegt hatte und erst am Morgen wieder zu sich kam.
    Er taumelte zum Lagertor und meldete sich dort zurück.
Irgendwie gelang es ihm, glaubhaft zu versichern, dass er sich während der Übung verirrt habe und heilfroh sei, zum Lager zurückgefunden zu haben. Man glaubte ihm und verdonnerte ihn lediglich zum Innen- und Außenrevierreinigen.
    Mosche vertrieb sich die Zeit mit Fegen des ohnehin sauberen Appellplatzes und der Straßen. Niemand interessierte sich für das Ergebnis seiner 'Arbeit'. Man sah, dass er beschäftigt war und dies genügte.
    Ronald und Kalle hatten ihre liebe Not, bei der Übung nicht aufzufallen. Am Abend hatten sie bis zur Nachtruhe mit Mosche und den Kameraden vom Royalisten-Kollektiv in Schneibe-Kramlach gezecht und herumkrakeelt. Zu ihrer Freude sahen sie, dass die meisten Ausbilder und auch die Kontrolleure sich nicht wohl fühlten. Einigen war anzusehen, dass sie Mühe hatten, wach zu bleiben. Besonders Schleiferheini gähnte fortwährend!
    "Ich hab' nen Brand wie Sau!" fluchte er vernehmnlich vor sich hin. "Und jetzt hab' ich auch noch den Schnaps vergessen. So eine Scheiße!"
    'Das ist die Gelegenheit!'  dachte Ronald. Er trat an den Boß heran.
    "Kamerad Hundertschaftskommandeur, da kann ich helfen! Ein kleines Trostpflaster, bitteschön!" Er hielt ihm die mit Korn gefüllte Feldflasche hin.
    Schleiferheini nahm einen gründlichen Zug wie weiland Oberfeldkurat Pater Lacina im ‘Braven Soldaten Schwejk’!1
    "Ah, sehr gut, danke, Genosse!"
    "Jawoll, Genosse Scheff!" salutierte Kalle mit der linken Hand.
    Heini salutierte zurück.
    "Hähähä, der ist noch besoffener als wir!" lachte Kalle zu Ronald. "Der tut uns erstmal nichts. Wir sollten ihn aber bei Laune halten!"
    "Ja, und jetzt waren wir Schleimer wie Thomas. Bloß: wir haben niemanden angeschissen!" grinste Ronald. 
    Die Übung ging weiter.
Gegen Mittag waren sie ziemlich ausgepumpt und auch der Hängolin-Schnaps-Tee war seit Stunden alle.
    Am späten Nachmittag war die Übung beendet. Nach dem dann  unvermeidlichen Waffenreinigen und Säubern der Ausrüstung marschierten sie zu ihrem letzten Abendessen in Schneibe-Kramlach, das mit dem gemeinschaftlichen Besuch einer Filmvorführung endete.
    "Der Würger von Notting Hill" hieß das parteipolitisch wertvolle Stück.
Kurz nach zwanzig Uhr begann die große Abschlußfete.
    Die durstige Bande saß, gemeinsam mit Schleiferheini, auf der Bank bei der Raucherecke neben einem halben Dutzend Bierkästen und Schnapspullen und krakeelte herum.
    Der letzte Wilhelm hätte seine helle Freude gehabt!
Ronald und Kalle waren noch immer vom vorigen Abend gezeichnet. Ununterbrochen gähnten sie.
    "Mensch, Mädels, was ist los mit euch?" fragte Christian, ein ebenfalls immer durstiger Witzbold und Radaubruder, mit dem sie sich in den letzten Tagen angefreundet hatten. "Saufen wir die Großen, aber vertragen wie die Kleinen!"
    "Na du hast gut reden." knurrte Kalle. "Wer hat denn gestern schon gegen Mitternacht gekniffen? - Also bitte!"
    "Is' ja gut, Kalle." beschwichtigte Christian. "Aber immerhin – wir haben euren Liebling Thomas entschärft. Jeden Tag 'ne gute Tat oder so ähnlich heißt es im Pionierversprechen, oder?"
    "Stimmt, das habt ihr gemacht. Aber mußtet ihr ihn gleich krankenhausreif schlagen?" fragte Schleiferheini. Er schüttelte den Kopf.
    "Haben wir ja gar nicht!" erwiderte Christian. "Er hat nur zwei ordentliche  Maulschellen von mir gekriegt, weil er seine große Fresse einfach nicht halten konnte und uns 'verkommene Subjekte' genannt hat. Okay, das hat er vielleicht nicht böse gemeint; kam aber so bei uns an. Naja und da ist er mir rückwärts ausgewichen und dabei auf dem Fußboden ausgerutscht. Ist saublöd hingefallen und hat sich die Birne mächtig angeschlagen. Geht auch vorbei, denk' ich mir."
    "Mag sein, 's wird aber trotzdem noch ein Nachspiel für euch haben!" orakelte Heini. "Ausgequetscht werdet ihr sicherlich noch. Die Meldung an die Polizei ist längst raus!"
    Christian sah den Kommandeur betreten an.
"Die Bullen? Meldung? So eine Scheiße! Mußte das denn sein? Meine Alten drehen durch, wenn sie das erfahren."
    "Dazu sind wir verpflichtet! Das hier fällt unter Körperverletzung. Versteht doch, wir sind hier nicht nur eure Kommandeure und Vorgesetzten sondern wir tragen auch die Verantwortung für euch. Auch wenn einige schon über achtzehn sind. - Ist halt so, Jungs! Und das hier war leider ein besonderes Vorkommnis. Aber die werdet ihr in ein paar Jahren noch genug kennen lernen, das garantier' ich euch! Bei der Fahne gibt's noch ganz andere Sachen, da ist das hier glatter Kindergarten!"
    Schleiferheini begann, einige Erlebnisse aus seiner Zeit bei der früheren KVP und späteren NVA zum Besten zu geben. Wie gebannt hörten die Jungen zu. Er beschrieb die bekannten EK-Spielchen 'Musikbox' und 'Staubsauger' sowie 'Stachelschwein' und 'Eierschließen'.
    Sie wußten nicht recht, ob sie lachen oder entsetzt sein sollten.
    "Von 'Musikbox' und 'Staubsauger' hab' ich schon von meinem Bruder gehört, sagte Mosche, als der Kommandeur endete. "Aber von 'Stachelschwein' noch nicht – das muß ich mir merken. "Stacheldraht unter das Bettlaken zu legen, wenn ich weiß, dass sich jemand ohne nachzusehen nackig draufwirft. Ei jei jei, das tut gut!! Meine Fresse!"
    Er warf sich auch gern, ohne nachzusehen aufs Bett.
    "Und 'Eierschließen', huahaha!" Kalle schüttelte sich. "Ein Vorhängeschloß um die Eier gemacht. So was tut doch saumäßig weh, oder?"
    "Weiß Gott, ja!" bestätigte Heini grinsend. "Da gibt's übrigens noch 'ne verschärfte Variante: 'Ne dünne Drahtseilschlinge mit ans Schloß und um den Bettpfosten gebunden. Dann unschuldig pfeifend zum Dienst gehen und unauffällig den Schlüssel wegschmeißen!"
    "So was wird tatsächlich gemacht? Da würd' ich mich sofort beim Kommandeur beschweren!" sagte ein Junge, der sich etwas im Hintergrund hielt.
    "Kannste ja machen, mein Lieber!" sagte der Boß. "Kommt ganz drauf an, in was für 'ner Einheit du bist. In mancher machst du das nur einmal, glaub' mir. In Eggesin zum Beispiel, da, wo alles mögliche Gesocks hinkommt. Die Gegend dort kenn' ich zur Genüge. Sandmeer, Kiefernmeer, gar nix mehr! Oh ja!"
    Ein leichter Schatten flog über sein Gesicht und Ronald dachte mit gelindem Grausen an den zwei Jahre zurückliegenden Tip seines seligen Großvaters, die ihn hänselnden Klassenkameraden bei dem Lehrer anzuzeigen.
    "Und merkt's euch, Jungs, immer schön die Beine lang beim Pennen, und die Hand vom Sack!" schloß Heini mit väterlicher Miene und verließ die Runde um sich bei seinen Schleiferkameraden weiter die Hucke vollzuknallen.
    Die Jungen blieben unter sich. Die Bierflaschen zischten bis weit nach Mitternacht und die Schnapspullen ploppten. Einträchtig saßen sie zusammen und sangen lauthals:


        "Scheiße in der Lampenschale
        Hela-le-la-le-lu
        gibt gedämpftes Licht im Saale
        Hela-le-la-le-lu

        Scheiße auf der Friedhofsmauer
        Hela-le-la-le-lu
        stört die Gäste bei der Trauer
        Hela-le-la-le-lu

        Scheiße auf der Sackbehaarung
        Hela-le-la-le-lu
        zeugt von einer Männerpaarung
        Hela-le-la-le-lu

        Scheiße im Gewehr verschossen
        Hela-le-la-le-lu
        gibt beim Gegner Sommersprossen
        Hela-le-la-le-lu"

So ging es über dutzende Strophen weiter und auch Wirtinnen-Strophen wurden ohne Ende hervorgekramt, die zweifelsohne jeder Puffmutter die Schamröte ins Gesicht getrieben hätten.
    Höhepunkt war die Rezitation des "Laddezaun"; einer Ballade eines Gärtners in hessischer Mundart, der einem unbekannten, an seinem Zaun kackenden Besucher mit einer Schaufel unbemerkt sein Produkt entwendet und mit einem Hühnerei austauscht. Folgen inbegriffen.
    Ronald stand dabei auf dem Tisch, eine Bierflasche in der Hand und deklamierte lauthals das teure Werk.
    Die Trunkenbolde bogen sich vor Lachen und applaudierten lautstark....