Lug und Trug im SED-Staat

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Zum einen griffen die Urheberrechte in der DDR und den anderen Ostblockstaaten auf andere Art und Weise, wie sie im Westen üblich war. Hinzu kam, dass, wenn die kleine DDR auch noch solche Software selbst produzieren wollte, wohl völlig überfordert gewesen wäre.
    Ärgerlich empfand Ronald jedoch Besuche, vorwiegend aus Partei- und Funktionärskreisen, die in seiner Abteilung herumgeführt wurden und denen man dort geradezu das Blaue vom Himmel herunter log.
    Ein interessantes Beispiel erlebte er bei der ersten externen Präsentation eines CAD/CAM-Arbeitsplatzes.
    Hoher Besuch hatte sich angekündigt. Der Erste SED-Kreissekretär mit seinem Gefolge!
    In einem besonders gesicherten Raum seiner Abteilung waren zwei originale, über die Stasi bereitgestellte, IBM-PC's aufgestellt. Diesen Raum durften nur ausgewählte Leute betreten. Dazu gehörten selbstverständlich die hauptamtlichen Genossen der SED-Kreisleitung, einschließlich den Funktionären der FDJ, DSF und weiterer nützlicher oder unnützer Organisationen.
    Der Erste, der diesen Raum regelmäßig betreten durfte, war übrigens der Hausmeister. Die Genossen hielten ihn für bescheuert, so dass er ohnehin nicht verstehen würde, was sich in diesem Raum befand. Somit bekam er zwar keinen Ausweis mit Sondergenehmigung, konnte aber zum Putzen und Staubwischen eintreten, wann immer er wollte. Alle andern mußten zumindest eine Berechtigung zur Einsicht in VVS-Unterlagen vorweisen können
    Diese Genehmigung für 'Vertrauliche Verschlußsachen' erhielt man von der Personalabteilung, seinerzeit auch Kaderabteilung genannt. War man vertrauenswürdig und auch der zuständige Stasi-Genosse mit der Berechtigung einverstanden, bekam man einen dicken roten Stempel nebst Siegel in seinen Betriebsausweis gedrückt.
    Ronald war auch im Besitz dieses Siegels und gehörte zu denjenigen, die anfangs einen flüchtigen Blick in den Raum werfen und ihn einige Tage später sogar betreten durften. Einige Wochen, nachdem die Rechner aufgestellt und in Betrieb genommen waren, durfte er sich sogar auf den Sessel vor ihnen setzen und sie bedienen.
    Er war begeistert! Das war wirklich mal 'was!
Der Parteisekretär trat ein. Mit etwas hochmütigem Blick musterte er die Umstehenden. Der Abteilungsleiter hielt eine kurze Ansprache, in der der Partei und der Regierung für die Bereitstellung dieser hochwertigen und geheimen Technik gedankt wurde. Die Hardware unterlag Embargobestimmungen und war auf abenteuerliche Weise aus dem westlichen Ausland in die DDR verbracht worden. Wie genau, wussten nur sehr wenige Eingeweihte und es fragte keiner danach. Es hätte auch nichts genützt, denn man hätte ohnehin keine Antwort bekommen.
    KoKo war Staatsgeheimnis und von Schalck-Golodkowskis Umtrieben wußten ohnehin nur eine Handvoll Leute!
    Auf den Computern und den Peripheriegeräten hatte man sinnigerweise das IBM-Logo mit dem Robotron-Schriftzug überklebt und das Ost-Kombinat kam so zu einer Produktionspalette, die, so einige Insider unter der Hand, wohl erst in einem halben Dezennium auch nur ansatzweise produziert werden könnten. Wenn überhaupt!
    Der Abteilungsleiter forderte die Softwareentwickler auf, ihr Programm vorzuführen. Es war eine etwa fünfminütige Demo über den Schnittaufbau eines Space-Shuttles, die Schalcks Leute gleich mitgeliefert hatten. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit wurden Aufbau und Querschnitt des Raumfahrzeugs gezeigt. Als die Demo beendet war, sagte der Abteilungsleiter zu seinen Gästen:
    "Seht ihr, Genossen, das war der Aufbau des sowjetischen 'Buran', der vor einigen Wochen gestartet und problemlos wieder gelandet ist. Ihr habt gesehen, wie schnell die Konstuktion hier auf dem Bildschirm funktioniert hat."
    'Buran' hieß das russische Pendant zum amerikanischen Space Shuttle.
Er machte eine bedeutungsvolle Pause.
    "Nun ja! Diese Software ist eine Entwicklung aus einem sowjetischen Konstruktionsbüro. Streng vertraulich; versteht sich!
    Und nun, Genossen, ihr wisst ja, wie ein Konstruktionsbüro mit  Zeichenbrettern aussieht? Gut! Dumme Frage, nicht wahr, hähähä. - So, und nun stellt euch mal vor, wenn diese Zeichnungen allesamt mit der Hand gezeichnet werden, wie lange das dauert!"
    Parallel zu seinen Ausführungen spuckte ein IBM- alias Robotron-Plotter eine knallbunte dreidimensionale Schnittzeichnung des zum Buran konvertieren Space-Shuttle im A0-Format aus. Groß und breit wie ein Wandschrank!
    Den Genossen blieb Mund und Nase offen stehen!
Offensichtlich: der Aha-Effekt hatte gewirkt. Schwer beeindruckt verließen die Genossen den Raum, nicht ohne dass dem SED-Häuptling noch der riesige zusammengerollte Plot in die Hand gedrückt wurde.
    'Ein Schuft, wer jetzt was Arges denkt!' dachte sich Ronald. 'Sind die denn wirklich so dämlich oder tun sie nur so? Es ist doch unmöglich, ein Raumschiff in  fünf Minuten zu konstruieren. Aber vielleicht glauben die den Blödsinn tatsächlich, der ihnen hier vorgemacht wird. Potjomkinsche Dörfer an allen Ecken und Enden. Ich glaube, wenn die die Möglichkeit gehabt hätten, hätten sie noch russische Bezeichnungen auf dem Shuttle aufgebracht."
    Tatsächlich, keinem der Genossen war aufgefallen, dass die Zeichnung des 'sowjetischen Buran' mit englischen Begriffen versehen war und auch die Legende völlig ohne kyrillische Buchstaben auskam.
    'Es ist fast wie bei der Fahne, da wurden und werden ja auch die Wiesen grün gespritzt und die Birken mit Kreide angestrichen, wenn irgend ein Bonze kommt', dachte Ronald. 'Aber es ist sinnlos! Die Welt will betrogen werden! Hier ändert sich ja sowieso nichts!' ...
    Mit einem Mal hatte er eine Idee: Er sprach den Parteiboß beim Hinausgehen an.
    "Genosse Erster Sekretär, diese Zeichnung hier wäre doch sicher ein prima Hintergrundbild für Dein Büro in der Kreisleitung? Als Präsentation für CAD/CAM oder so."
    Der Sekretär sah ihm in die Augen und grinste breit.
    "Gute Idee, Genosse! Hab' auch grade dran gedacht. Mach' ich gleich nachher!"
    Er klopfte ihm auf die Schulter und die Begleiter murmelten zustimmende Worte.
    Ronald lachte in sich hinein.
'Das möchte ich sehen, wenn der das Shuttle an die Wand macht und dann der Bezirksbonze oder ein Fuzzi vom ZK oder sonstwo herkommt und dann das "Copyright by IBM" sieht. Das geht ab wie Sau, Hihihihi!'
    Diese Vorstellung erheiterte Ronald ungemein.
    Leider erfuhr er nie, ob der SED-Mann auch wirklich den Plot an die Wand geschlagen hatte. Vielleicht war er doch nicht ganz so dämlich. Oder aber die Stasi, die überall, auch in den Parteibüros herumschnüffelte, hatte vorher den seltsamen 'Buran' aufs Korn genommen ...
    Mit dem geklauten dBase-Clone und seinen Folgeprogrammen machte sich Ronald in den nächsten Wochen und Monaten vertraut. Es war auch im Selbststudium recht einfach, sich mit der Logik der Software und den Anwendungen vertraut zu machen. In wenigen Wochen war er in der Lage, recht komplexe Datenbanken zu erstellen und programmiertechnisch zu verwalten.
    Dieses Wissen sollte ihm in den nächsten Jahren noch sehr nützen.
    Auf verschlungenen Wegen bekam er über Bekannte auch Zugriff auf hochaktuelle Softwarewerkzeuge, mit denen er sich möglichst rasch vertraut machte und in seiner Arbeit anwendete.
    Er konnte nicht ahnen, dass er hier den fachlichen Grundstein zu seinem neuen Leben in der späteren Gesellschaft legte.
    Alles in allem machte ihm diese Arbeit Spaß, zumal er auch recht schnell Erfolge hatte. Einige seiner Programme wurden unverzüglich in seinem Kombinat eingesetzt und dienten in regelmäßigem Rhythmus zur Erstellung und Bearbeitung von strategisch wichtigen Kennzahlen und zur Berichterstattung an den Generaldirektor und das übergeordnete Fachministerium in Ostberlin.
    Rechnerisch und programmtechnisch war alles bestens und im grünen Bereich. Nur die wackelige materielle Ausgangsbasis war die gleiche wie vorher.
    Weniger vergnügt sah Ronald, dass auch hier mit Zahlen und Auswertungen manipuliert und Schönfärberei betrieben wurde. Zwar schöner, schneller und bunter, dafür aber noch weitaus unverschämter!
    Auch seine Software beschleunigte die Erfassung und Multiplikation der Schönfärberei.
    "CAF/CAM" nannten Ronald und einige seiner Kollegen zuweilen ihre Werke: "Computer-Aided-Flam/Computer-Aided-Manipulation".
    Einen großen Wurf schien er im Rahmen seiner Verbindungstätigkeit zum zuständigen Fachministerium und zu diversen Hochschulen zu landen:
    Der Ministerrat der DDR hatte Mitte der 80-er Jahre ein Papier zur Einführung eines rechnergestützten Systems von Leitung und Planung der Volkswirtschaft beschlossen1.
     Die papierverschlingenden, zuweilen bis zur Verzweiflung komplizierten und bereichsübergreifenden Verwaltungsprozesse sollten mittels Softwareunterstützung realisiert und Daten möglichst ohne weitere menschliche Bearbeitung ausgetauscht werden.
    Binnen acht Jahren sollten die letzten Arbeiten abgeschlossen sein.2
Ronalds Zuständigkeit lag im Bereich Forschung und Entwicklung. In diesem Teilprojekt war der vorgegeben Zeitkorridor am kürzesten. Geplant war, bis spätestens zum Ultimo 1990 mit dem Praxiseinsatz zu beginnen.
    Ronald arbeitete wie ein Besessener. Tag und Nacht grübelte er über Programmen, Tabellen und  Formblättern.
    Es gelang ihm tatsächlich, in kurzer Zeit ein Konzept zu entwickeln, welches besser als das seiner Konkurrenten eingeschätzt wurde und in die nähere Auswahl einbezogen wurde.
    Hintergrund war der Umstand, dass der Plankommission die Zeit im Genick saß. Die Staats- und Parteiführung wollte Fakten sehen!.
    Mit Absichtserklärungen und schönfärberischen Berichten kam man hier offenbar nicht weiter. Das Risiko erschien den subalternen Genossen wohl zu hoch. Hinzu kam, dass der verantwortliche Sektorenleiter in Ostberlin ein verständiger Mann war, der Ronald auch offenbar mochte und ihn bei seiner Arbeit förderte.
    Seitens seines eigenen Fachministeriums wurde Ronalds Arbeit gelegentlich und unter 'diverse weitere Projekte' erwähnt, im übrigen aber unverändert die großartigen Vorhaben der Berliner Kombinate präferiert.
    "Sie können meinetwegen tun oder lassen, was und wie sie wollen! Wir arbeiten mit dem Ihnen bekannten Berliner Kombinat zusammen und deren Projekt wird von uns unterstützt!" sagte der fachlich zuständige Ministeriumsgenosse mit leichtem Grinsen zu ihm.
    Pech nur für das Ostberliner Kombinat, dass Ronald einen mehrmonatigen zeitlichen Vorlauf hatte, den die dortigen Programmierer so leicht nicht einholen konnten.
    Mehrfach unternahm Ronald Besuche bei den Entscheidungsträgern, der Plankommission, mit denen sich er unter vier Augen über die weitere Vorgehensweise sprach und sich abstimmte. Da er, nicht zuletzt aufgrund seiner bis in die Nachtstunden andauernden Arbeit einen gewissen zeitlichen Vorlauf zu seinen Mitbewerbern hatte, unterstützte man dort vorzugsweise ihn und weniger die stallgeruch-inhabenden hauptstädtischen Konkurrenten.
    Im Mai 1989 war es dann soweit. Die Staatliche Plankommission der DDR befürwortete sein Projekt zur Aufnahme in den "Gesetzentwurf zu Rahmenrichtline über den Volkswirtschaftsplan".
    Das Gesetz sollte dann im Folgejahr veröffentlicht und Ronalds Software landesweit als verbindliches Arbeitsmittel für den nächsten Fünfjahrplan für Wissenschaft und Technik empfohlen werden.
    Ronald war überglücklich und ging daran, sein Produkt zu vermarkten.
Dies sollte sich jedoch schwieriger erweisen, als er es jemals für möglich gehalten hätte! ....